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Literatur Magazin 05/17

WALD IN FLAMMEN

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Fotografie: Shutterstock
Text: Inge Ahrens

In meinem Viertel, ganz nah am See, steht eine moderne Kirche. Die Architektin hat sowohl den Glockenturm als auch das Gotteshaus grossflächig mit Lärchenholz belegt. Im Laufe der Jahre verwandelte es sich durch Regen und Sonne in ein schimmerndes seidiges Silbergrau. So, wie ich es aus den Alpen schon kannte, wo es seit jeher für Häuser, Hütten und die Dachschindeln verwendet wird. Die Lärche gilt als besonders witterungsfest und ist als lebender Baum im Gebirgswald sehr erwünscht. Sturmfest, lawinenstabil und schneebruchsicher ist er und wegen seiner dicken Borke gegen Steinschlag gefeit. Während die Lärche im Frühling ein fast lieblicher Baum mit zartgrünen weichen Nadeln ist, setzt sein loderndes Gelb so kurz vor dem Winterbruch nicht nur Hänge und Wälder, sondern auch Herzen in Flammen. Wenn der Begriff «goldener Herbst» irgendwo seinen Ursprung hat, dann in den Alpenländern. Die Lärche, lat. Larix, gehört zu den Kieferngewächsen, lat. Pinaceae. Ein Nadelbaum, der sich wie ein Laubbaum verhält. In den Alpen gedeiht die Lärche in trockenen Lagen bis auf über 2000 Metern Höhe und kann bis zu 30 Meter hoch werden. Ihre Wurzeln verankern den pyramidenartig gewachsenen Baum auch in Steillagen durch Stein und Klüfte zwei Meter tief. Die weichen etwas abgeflachten Nadeln stehen büschelweise wie kleine Rasierpinsel an den neuen Trieben der weit ausladenden Zweige. Das zwittrige Wesen treibt rote weibliche und blassgelbe männliche Blüten und gebiert hellbraune geschuppte Zapfen. Als einziger Nadelbaum wirft sie ihr Nadelkleid vor Winterausbruch ab, was sonst nur die Laubbäume tun. Den Winter übersteht sie nackt, bis Anfang Juni neue fedrige Nadeln spriessen. Lärchen können viele Jahrhunderte überdauern, wenn sie nicht als Bauholz gefällt werden oder ein Schädling ihnen allzu hart zusetzt. Lichtbaum nennt man die Lärche, denn sie treibt unermüdlich schlank und rank in die Höhe.

Mit den Arven bildet sie die Wachstumsgrenze, was im Herbst besonders wirkungsvoll ist, wenn dunkles Grün und Goldrot herrliche Kontraste bilden. Dann sind auch die Pilzsucher unterwegs, den schmackhaften Goldröhrling zu ernten, der als Mykorrhiza-Pilz eine lebenslange Partnerschaft ausschliesslich mit der Lärche eingeht. Auch mit Laubbäumen mischt sich die Lärche. Sie wächst am häufigsten in den Zentralalpen oder in den Karpaten. Im Tirol soll sie lange als Heilmittel gegen den Kropf geholfen haben. Dem Erkrankten wurde empfohlen, bei Neumond einem jugendlichen Lärchenbaum ringsum die Rinde abzuknabbern. Wenn der Baum schliesslich gestorben war, sei auch der Kropf perdu. Schnell verschwunden sind auch die Silser Kugeln. Sie gelten als Trouvaille. Wer in der Schweiz im Engadin am Silsersee entlanggeht, sieht mit etwas Glück im Flachwasser am Ufer grosse und kleine braune Kugeln hin- und herkullern. Wenn die Lärche ihre Nadeln abwirft und der Malojawind sie in den See weht, bilden Wellen und Unterströmungen nach einer langen Weile strausseneiergrosse wahre Naturskulpturen daraus, die vom Baumharz zusammengehalten werden. Ein Phänomen, das inzwischen auch in den Konditoreien zu haben ist und aus Schokolade, Marzipan und Meringue besteht. Im Engadin gibt es besonders viele Lärchen. Im Herbst regnet es Gold von den schweren Ästen. Im Oktober, wenn der Himmel in den Bergen dies unvergleichliche Kobaltblau hat, liegt früh am Morgen der Bodennebel als feiner Schleier über Seen und Wiesen. Die Bergspitzen sind schon vom ersten Schnee bestäubt, und der Atem von Tier und Mensch schwebt eine Weile als weisser Hauch in der Luft. Der Wald steht still und schweigt. Bald ist Winterschlaf. Als würden sie uns erfreuen wollen, haben die Lärche ihr Festkleid angelegt. Sie geben noch einmal alles, machen Feuerwerk in der verlöschenden Natur. Wir berühren ihre sanften Nadeln und lassen sie vorsichtig in unsere Handfläche rieseln, spazieren auf wunderweichen Nadelteppichen durch den Zauberwald und halten die Luft an bei so viel Festlichkeit so spät im Jahr. Da kann uns der viel besungene Indian Summer Nordamerikas doch gestohlen bleiben.

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