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Kolumne Literatur Magazin 01/17

STERNE PFLÜCKEN

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Illustration: Ted Scapa
Text: Okka Rohd

Jedes Jahr das gleiche Ritual: Wenn Weihnachten vorbei ist und der Dezember in die Schlusskurve geht, veranstalte ich eine Art Personalentwicklungsgespräch mit mir selbst – mein Gewissen ist ja unerbittlicher als jeder Chef. Zuerst denke ich zusammen mit meinem Gewissen darüber nach, was in diesem Jahr gut und was nicht ganz so gut war. Die Urteile, die dabei gefällt werden, tun mir nicht besonders weh, ich kenne sie ja schon. Zu oft von Kleinigkeiten genervt. Manchmal zu konfliktscheu, weil es im Grunde ja sowieso nichts bringt, wenn man stur auf den eigenen Standpunkten beharrt. Beim Ehrgeiz hapert es immer noch. Nichts Dramatisches also, nur das Übliche, das jeder mit sich herumträgt. Die paar Macken, an die man irgendwann nicht mehr herangeht, weil man sie für einen Charakter hält. Im zweiten Teil des Gespräches geht es um die Ziele fürs nächste Jahr. Ich würde gerne wieder öfter essen gehen, statt mir ewig meine fünf Lieblingsstandards zu kochen. Oder: Ich muss mal wieder nach Paris. Und: Ich brauche endlich mehr Zeit für mich. Normalerweise gibt sich mein Gewissen damit zufrieden. Wahrscheinlich, weil es am Ende des Jahres genauso müde ist wie ich. Nur dieses Mal nicht. Dieses Mal war es hellwach. «Was soll das?», fragte mein Gewissen. «Du bist nicht einmal 40, aber hörst dich schon an, als hättest du dich vom Leben verabschiedet. Merkst du denn gar nicht, wie langweilig du bist?» «Habe ich etwas falsch gemacht?», fragte ich zurück. «Nee», sagte es, «alles richtig. Genau das ist ja das Problem. Du sagst, du willst deine Abende wieder öfter in Restaurants verbringen. Und das soll dein wichtigster Vorsatz fürs nächste Jahr sein? Um nach Paris zu kommen, brauchst du ein Ticket, das du dir innerhalb von drei Minuten im Internet besorgen kannst. Wann hast du dir eigentlich abgewöhnt, dass du dir etwas vornimmst, das wirklich gross ist?» «Ich weiss nicht, was du meinst», sagte ich, aber das war natürlich gelogen. Und wir wussten es beide. «Du bist zu einer Frau geworden, die sich nur noch Dinge vornimmt, die sie entweder locker hinkriegt oder bei denen es kein Problem ist, falls sie es nicht schafft. Auf deiner Liste stehen lauter Egal-Wünsche. «Ist das nicht so bei Erwachsenen?», dachte ich, aber das Gewissen konnte mich trotzdem hören. «Deswegen sind Erwachsene meistens so unerträglich», sagte es. «Ihr habt vergessen, dass man Sterne pflücken wollen kann. Stattdessen fliegt ihr mit einem Billigflieger nach Paris.» «Paris ist wunderschön», sagte ich trotzig, «und vielleicht liegt es auch daran, dass man nach Paris kommt und zu den Sternen eher nicht.» «Ausreden», sagte das Gewissen. «Die Sterne sind doch überall. Man wird nicht grösser davon, dass man sich vor den Möglichkeiten duckt. Man wächst nicht, wenn man immer nur Kleinklein will. Gibt es denn wirklich nichts, was du dir so dringend wünschst, dass du Angst hast, diesen Wunsch überhaupt auszusprechen? Einen Berg hochzuklettern? Angkor Wat zu sehen und die kambodschanische Küche kennenzulernen, statt Paris, wo du sowieso wieder an denselben Orten landest wie beim letzten und vorletzten Mal? Einen Garten anzulegen mit Bäumen, denen man beim Wachsen zusehen kann?» «Doch», sagte ich. «du kennst mich doch.» «Na, dann wissen wir ja, was wir im nächsten Jahr zu tun haben, nicht wahr?»

Ted Scapa, Kolumne, Stern,
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