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Kolumne Literatur Magazin 04/18

NUR EIN KLEID UND DOCH SO VIEL MEHR

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Illustrationen: Ted Scapa
Text: Okka Rohd

Vor unserem Umzug im letzten Jahr bin ich ein wenig durchgedreht. Das Wissen, in unserer neuen Wohnung mehr Platz zu haben, führte zu einer Überreaktion. Ich beschloss auszumisten, und zwar nicht nur die schon fünf Jahre abgelaufenen Dosensuppen aus der Küchenschublade, sondern alles. Mein ganzes Leben, in dem ich schon viel zu lange das Gefühl gehabt hatte, nicht mehr richtig Luft zu bekommen. Also spendete ich vier Regale voller Bücher, packte Flohmarkttaschen mit Küchen-Utensilien, altem Kinderspielzeug und Gummistiefeln, die niemandem mehr passten, reduzierte meinen Kleiderschrank um die Hälfte und vermisste seither nie auch nur ein einziges Stück. Als wir umzogen, hatte sich unser Hausstand locker um ein Drittel verringert.

Die neue Wohnung fühlte sich herrlich luftig an. Beim Verstauen all der Dinge, die geblieben waren, wurde mir allerdings etwas bewusst: Was diesem Gefühl von Sortiertheit vorher im Weg gestanden hatte, waren nicht die überschüssigen Bücher oder das Chaos in unseren Küchenschubladen. Es war meine Unfähigkeit, die Dinge zu sehen, die direkt vor meiner Nase standen. Ich war so sehr damit beschäftigt, mich zu fragen, was ich alles loswerden wollte, dass ich keinen Gedanken an all das verschwendete, was ich bereits besass. Dabei ist es so viel.

Wirklich verstanden habe ich das, als ich meinen Kleiderschrank einräumte. Jedes Stück war eine kleine Geschichte. Das Paar Jeans, das ich in meinen beiden Schwangerschaften so oft angehabt hatte, weil sonst nichts mehr passte. Ich trug diese Jeans, als ich mich auf den Weg zum Krankenhaus machte, um meine erste Tochter kennenzulernen. Ich trug sie, als ich wieder ins Krankenhaus fuhr, um meine zweite Tochter auf die Welt zu bringen. Und ich werde sie niemals weiterverschenken, auch wenn ich dieses komische Teil mit Gummizug vermutlich nie wieder tragen werde. Da war der Blazer, den ich anziehe, wenn ich vor einem Termin aufgeregt bin und eine Rüstung gebrauchen kann – es ist das einzige massgeschneiderte Stück in meinem Kleiderschrank. Ich habe es mir von dem Berliner Designer James Castle anfertigen lassen – aussen hellgrau, mit einem pinken Innenfutter. Und dann dieses Sommerkleid, das immer ganz rechts hängt, als wäre dieser Platz ein ganz besonderer.

Mein Mann hat es mir geschenkt, ohne irgendeinen Grund, einfach so, weil er dachte, ich würde mich wahnsinnig darüber freuen. Tatsächlich ist es mir von allen meinen Kleidern das liebste, denn in ihm bin ich eine Frau, die ich sonst nicht allzu oft bin: lässig und verspielt, mit dieser Pfffff-die-Welt-kann-mich heute-mal- Attitüde, die ich an französischen Frauen immer so mag. Es ist mein Französinnen-Kleid, obwohl es als Kaftan viel besser nach Ibiza passt. Nur ein Kleid, eines der vielen Dinge, die ich besitze – und so viel mehr. Eine Erinnerung an das, was ich in meinem Leben habe. Jede Menge Liebe, unser chaotisches Wir, das Gefühl, endlich wieder atmen zu können – und das Wissen, dass ich mir jederzeit Leichtsinn anziehen kann, wenn mir danach ist.

La Tavola Magazin, Kolumne, Ted Scapa
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