Tippe um zu schreiben

15.12.19

Teilen

Eine Weihnachtsgeschichte

Es war einmal eine Grossmutter, die hatte kein Talent für Weihnachten. Sie konnte weder backen noch stricken noch singen oder gar Geschichten erzählen. Sie hatte auch keine Lust dazu. Viel lieber setzte sie sich am Heiligabend auf einen Kamin, hoch oben auf einem Hausdach und schaute den Weihnachts­engeln beim Fussballspielen zu. So könnte diese Geschichte, die, das schwöre ich, ganz bestimmt kein Märchen ist – oder vielleicht doch? – beginnen. Aber ich fange lieber einen Tag früher an und erzähle, was wirklich passiert ist. Das gibt es doch nicht, denke ich, das gibt es doch nicht, dass mir überhaupt nichts einfällt! Seit zwei Stunden sitze ich am Schreib­tisch und zerbreche mir den Kopf über eine Geschichte, die ich erfinden will. Sich den Kopf zu zerbrechen, das ist glücklicherweise nur eine Redensart. So ist mein Kopf selbstverständlich noch ganz in Ordnung, aber mir fällt trotzdem einfach nichts ein. Schliesslich stehe ich vom Schreibtisch auf, trete ans Fenster und sehe hinaus. Genau in diesem Augenblick passierte es. Ich entdecke einen Weihnachtsengel auf der Fernsehantenne. Wenn ich sonst aus dem Fenster gucke, sehe ich Hausdächer, Schornsteine, Kirchturmspitzen, Baumspitzen, grosse und kleine Dachfenster, ich sehe Leute, die sich hinter den Fenstern bewegen, den Himmel über der Stadt und die Wolken und natürlich eine Menge Fensterantennen, grössere und kleinere, solche, die der Wind schief gestellt hat, andere, die wie dünne, rostige Bäume mit vielen Ästen aussehen. Manchmal sitzt eine Amsel auf einem solchen Ast aus Metall, aber niemals ein Weihnachtsengel. Der, den ich entdecke, sitzt auch nicht, sondern ermacht Klimmzüge an einer Fernsehantenne. Er sieht ganz normal aus, wie Weihnachtsengel eben so aussehen: ungefähr so gross wie ein Zehnjähriger, schwarze Wuschelhaare, eine Stupsnase, zwei Flügel auf dem Rücken, dort, wo sie hingehören, und ein weis­ses, langes Hemd am Leib. Ich reisse erschreckt das Fenster auf: «He!», schreie ich hinüber zum anderen Hausdach, «he, du! Pass auf, dass du nichtrunterfällst!». So ein Unsinn. Er hat ja Flügel. Mit einem Aufschwung setzt er sich rittlings auf einen Antennenarm, schaukelt fröhlich hin und her und streckt mir die Zunge heraus. Dürfen Weihnachtsengel das? «Ich übe!», ruft er zurück. «Ich übe für die Weihnachtsengelweltmeisterschaft!» Weihnachtsengelweltmeisterschaft? Nie davon gehört. Es scheint ein zutraulicher Weihnachtsengel zu sein. Etwas später fliegt er von einem Hausdacht zum anderen und setzt sich auf mein Fensterbrett. «Wann findet denn die Weihnachtsweltmeisterschaft statt?», erkundigte ich mich. «An Weihnachten!» Wann sonst? Seine Hände sind schwarz vom Herumturnen an der Fernsehantenne. Er wischt sie an seinem schönen weissen Hemd ab. Er fühlt sich ganz echt an und sieht aus, als sei er aus gros­sen, weissen Federn gemacht. «An Weihnachten», wende ich ein, «an Weihnachten habt ihr doch etwas anderes zu tun!» Er baumelt mit den nackten Füssen, grinst fröhlich und fragt, ob ich ihm nicht ein Glas Milch spendieren könne. Milch ist gut, wenn man sportlich fit bleiben möchte. Ich bitte ihn, nicht wegzufliegen, und dann hole ich ein gros­ses Glas Milch aus der Küche. Das trinkt er in einem Zug aus, wischt sich die Lippen mit dem Handrücken ab und hat nun auch noch Schmutzspuren im Gesicht. «Warum macht ihr die Weltmeisterschaft nicht im Sommer?», fragte ich. «Da habt ihr doch nichts zu tun.» Wahrscheinlich, überlege ich, sage es aber nicht laut, wahrscheinlich liegen Weihnachtsengel im Sommer unter einem Sonnenschirm am Strand auf der faulen Haut und lassen es sich gut gehen, während ich auch im Sommer Geschichten erfinde. «Geht nicht», antwortet er. «Im Sommer halten Weihnachtsengel Sommerschlaf.» Na, bitte! Aber zur Weihnachtszeit, da haben Weihnachtsengel doch alle Hände voll zu ­­tun, wie die Osterhasen zu Ostern. Oder etwa nicht? Wie, bitte schön, findet ein Osterhase zu Ostern Zeit, an einem Reck zu turnen, Kugeln zu stossen oder einen Speer zu werfen? Denn alles das gehört ja zu einer Weltmeisterschaft. Der Weihnachtsengel, der auf dem Fenstersims meiner Dachwohnung im vierten Stock sitzt, erzählt mir stolz, dass er letzte Weihnachten die Bronzemedaille am Reck gewonnen habe. Dieses Jahr wolle er Silber schaffen und beim nächsten Mal natürlich Gold. Die Weihnachtsengelweltmeisterschaft selbst finde am Heiligabend statt,
erklärt er mir. Dann sprinteten die kleinen Engel über Hausdächer, hüpften von Kamin zu Kamin oder im Stabhochsprung quer über eine Strasse von einer Regenrinne zur anderen. Zum Kugelstossen benutzten sie Flachdächer, zum Geräteturnen die Fernsehantennen, und das Bodenturnen absolvierten sie selbstverständlich in der Luft, hoch über der Stadt, wie Engel das eben so tun; sie haben ja Flügel. ­
«Und was ist mit der Bescherung am Heiligabend?», will ich wissen. Der Weihnachtsengel bohrt nachdenklich in der Nase. «Die Kinder warten doch auf ihre Geschenke!», sage ich. «Ja, ja», antwortet er, hört auf, in der Nase zu bohren und kratzt sich nun etwas verlegen hinterm rechten Ohr. «Du hast ja Recht», gibt er zu, und ich bin stolz, dass er du zu mir sagt. Wer kann schon von sich behaupten, mit einem Weihnachtsengel per du zu sein! «Du hast ja Recht», sagt er noch einmal. «Die Sache ist nur die, dass wir gar nicht mehr gebraucht werden.» Wie bitte? Hat sich Weihnachten etwa verändert? Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich jedes Mal auf den Weihnachtsengel, wegen der Geschenke, gewartet. «Wer wartet denn heute noch auf einen Weihnachts­engel?» Der Weihnachtsengel lacht bei diesen Wortenetwas bekümmert. «Ihr kauft doch heutzutage die Geschenke in den Waren­häusern und schliesst Weihnachten die enster und Türen zu. Da hat unsereins keine Chance, das musst du zugeben!» Ja, es bleibt mir nichts anderes übrig, als zuzugeben, dass ein Weihnachtsengel heutzutage kaum noch Chancen hat. «Und deshalb», so erklärt er nun, «haben wir die Weihnachtsengelweltmeisterschaft erfunden. Irgendetwas müssen wir ja an Weihnachten tun. Wir können doch nicht nur dumm aus der Wäsche gucken.» Ich fühle, wie ich genauso bekümmert werde wie er. Die Weihnachtsengel tun mir Leid. Das scheint jedoch gar nicht nötig zu sein. Der stupsnasige, wuschelhaarige Weihnachtsengel auf meinem Fensterbrett grinst mich wieder fröhlich an, lässt seine Beine baumeln und fragt, ob ich ihm vielleicht einen Regenschirm leihen könne. Zu Recht, es sieht nach Regen aus. Ich hole den Regenschirm, den ich als Einzige noch nicht verloren habe, und mein Weihnachtsengel verspricht, gelegentlich wiederzukommen und mir seine Kür an einer Fernsehantenne vorzuturnen. «Wenn du Lust hast, meint er, «kannst du natürlich auch an Weihnachten unser Ehrengast sein. Du musst dir nur zutrauen, auf einem Kamin zu sitzen.» Mir wird ein bisschen schwindelig bei diesem Gedanken, aber ich will es mir überlegen. Dann spannt er den Schirm auf und fliegt davon. Ich blicke ihm nach. Wenn er, denke ich, kein Weihnachtsengel und ich nicht schon Grossmutter, sondern noch ein kleines Mädchen wäre, ja, dann könnte ich mich sofort in ihn verlieben. Ich schliesse das Fenster, kehre an meinen Schreibtisch zurück und schreibe diese Geschichte auf, die ich gar nicht erst erfinden musste. Endet diese Geschichte so – oder fängt sie gerade erst an? Wie dem auch sei, ich schwöre, ich habe noch nie auf einem Kamin gesessen! Das hat einen guten Grund: Ich bin nämlich nicht schwindelfrei.
Angelika Mechtel

Vorheriger Beitrag
Nächster Beitrag

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Nächster Beitrag